Die „Gewaltfrage“. Und warum wir sie stellen sollten. Beitrag für eine gemeinsame Diskussion

1. Einleitung

Die Frage nach der Gewalt ist eine, die oft zu vermeiden versucht wird. Weil sie schwierig, ja vielleicht unlösbar scheint, und sie oft als eine „Spaltungslinie“ wahrgenommen wird, der man lieber ausweicht. Das Ausweichen hilft, wie bei den meisten Konflikten, letztendlich aber nicht, sondern verhärtet eher die Fronten und bremst uns aus. Denn die Frage ist unvermeidbar, sowohl in Theorie als auch in der Praxis. Um uns ihr konstruktiv zu nähern, ist es wichtig, dass zuerst einmal Ordnung in eine oft unklare Debatte gebracht wird. Das heisst konkret, wir müssen zuerst über Begrifflichkeiten reden und auch aufdecken, von welchen unausgesprochenen Grundannahmen meist in der Debatte ausgegangen wird. Der zentrale Stellenwert, den diese Debatte erfährt, kann aber auch selber problematisiert werden. Statt uns der Frage zu widmen, was eigentlich unsere Ziele sind, und wie wir möglicherweise dort hin kommen, schiebt sich oft die „Gewaltfrage“ dazwischen, die dann aber auch nicht ernsthaft diskutiert wird. In aktivistischen Kontexten wurde als eine Art Kompromiss, oder um die mühsamen, langwierigen Diskussionen zur „Gewaltfrage“ nicht führen zu müssen, da es ja immer drängende Sachen gibt, die man TUN muss, das Konzept der „diversity of tactics“ propagiert. Dabei geht es darum, dass alle Menschen und Gruppen die Aktionsformen anwenden, die sie gut finden, man aber gleichzeitig den Aktionsformen anderer Menschen und Gruppen solidarisch gegenüber  steht. Es geht darum, sich nicht spalten zu lassen, in dem man sich voneinander distanziert, sondern einen Widerstand oder Kampf auf verschiedensten Ebenen möglich zu machen. Das mag in der Praxis durchaus effektiv sein, aber wenn dies dazu führt, dass die Grundsatzdiskussionen nicht stattfinden, wird es problematisch. Mir geht es in diesem Text hauptsächlich um zwei Dinge: 1. Um eine differenzierter geführte Debatte und 2. um ein Verständnis anderer Positionen und damit verbunden dann auch eine solidarischere und effektivere Praxis in unseren Kämpfen. Kennt man die Positionen der Anderen und deren Begründungen nicht, entstehen schnell voreingenommene Bilder, man misstraut sich, und versucht lieber Machtkämpfe zu führen als wirklich miteinander an einem Projekt zu arbeiten. Nötig ist für diese Debatte erstmal nur der Wille, sich ernsthaft mit den anderen Positionen auseinanderzusetzen. Vereinfachungen hingegen bringen uns nicht weiter. So heisst etwa „radikal“ nicht gleich „militant“ nicht immer gleich „Steine schmeissen wollen“. Es geht darum, mit der Diskussion einen Raum zu öffnen für das breite Spektrum an Fragen, die mit dem Thema der „Gewalt“ verbunden sind. Es geht um grosse Fragen. Wie stellen wir uns gesellschaftlichen Wandel vor? Was ist unsere Haltung zu Herrschaft, zu Eigentum, zu Recht und Gesetzen, zu Moral? Was ist unsere Analyse der herrschenden Verhältnisse? Dabei ist zu bedenken, dass keine Position neutral ist. Jede und jeder von uns geht von verschiedenen Grundannahmen aus, und wenn man eine ehrliche Auseinandersetzung will, müssen diese offengelegt werden. Das heisst zum Teil, dass man seinen eigenen impliziten Annahmen auch erst einmal auf den Grund gehen muss. Wichtig ist auch, gewisse Fragen nicht zu vermischen, wie etwa die Fragen „Was ist Gewalt?“ und „Kann Gewalt gerechtfertigt werden?“.

Ich beziehe mich im Text auf mehrere andere Autoren, die zum Thema der Gewalt geschrieben haben. In erster Linie auf Uri Gordon mit seinem Buch „Hier und jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie“, aber auch Peter Gelderloos mit seinem Buch „How Nonviolence Protects the State“, Ward Churchill mit dem Buch „Pacifism as Pathology“, Errico Malatesta mit „Anarchie und Gewalt“ und einige weitere Texte, die im Anhang vermerkt sind. Empfehlenswert ist auch noch eine Schrift mit dem Titel „Gewaltfrei oder militant, wichtig ist der Widerstand!“ von einer Gruppe aus Deutschland, die sich genauer der Frage widmet, in wieweit es problematisch ist, dass die Gewaltfrage so einen zentralen Platz einnimmt. Wie ihr sehen werdet, sind die einzelnen Bereiche der Debatte schwierig voneinander zu trennen, eine saubere Strukturierung ohne Wiederholungen, Überschneidungen und Querverweise war nicht ganz machbar. Eine Ausführung der Debatte in ihrer ganzen Breite, mit allen Pros und Contras würde ausserdem den Rahmen sprengen. Deshalb werden viele Themen nur angeschnitten, die dann in der Diskussion hoffentlich vertieft werden können. Auch so scheint der Text einigen von euch wohl schon zu lang, aber ich bitte um Verständnis, dass die Darstellung der Frage in ihrer Komplexität einen gewissen Raum benötigt. Für weitere Infos und Ideen empfehle ich die Lektüre der anderen Texte/Bücher, auf die ich mich beziehe, um noch ein genaueres Bild zu bekommen, es lohnt sich allemal.

 

2. Wer bestimmt die Begriffsdefinitionen und den Rahmen der Debatte?

In einer Debatte stellt sich zuerst die Frage nach den Begriffen und danach, wer die Bedeutung der benutzten Begriffe festlegt. Was als Gewalt definiert  und damit schon alles impliziert wird, ist zentral, will man die Debatte verstehen und verständlich machen. Dazu ein Einschub:

„Nicht erst seit gestern ist Gewalt omnipräsent und zeigt sich als giftgrüner Einheitsbrei: In einem Topf brodeln Amokläufe, Hooliganismus, politische Gewalt, Autoraser, die ›Verrohung der Sitten‹, sexuelle Gewalt, soziale Unruhen und Rangeleien auf dem Pausenhof. Blätter steigern mit marktschreierischen Berichten über Mord und Totschlag ihre Auflagen, Sender ihre Einschaltquoten. Politiker mit ausgefeilten Anti-Rezepten sind auf Stimmenfang, Meinungsforscher_innen liefern Statistiken am Laufmeter und mal mehr, mal weniger originelle Köpfe schreiben Bestseller über das Phänomen, seine Ursachen und das, was dagegen zu tun sei. Geprägt von Angst zeigt sich der herrschende Diskurs und auch von einer allgemeinen, man möchte sagen gleichgeschalteter Dämonisierung aller Gewalt. Insbesondere jener, die sich wie auch immer der Ordnung des Bestehenden widersetzt. Als repressive oder präventive demgegenüber ist Gewalt legitimiert und (moralisch) gerechtfertigt, bezieht ihre Berechtigung eben gerade daraus, die andere, die »bedrohliche« zu unterbinden. […]

Nach gesellschaftlichen Ursachen wird nicht gefragt, Gewalt vielmehr auf den moralischen Begriff des Bösen gebracht, das einbricht: in die Familie, in die Nation, in die gesellschaftliche Norm. Als Alien lackiert lässt »Gewalt« sich so befehden. Symptombekämpfung ist angesagt: Taliban jagen in Afghanistan, Kaugummikauen im Unterricht verbieten, Überwachungskameras installieren, Knüppel aushändigen. […] Den sichtbaren Spuren der Gewalt den Kampf zu erklären, darum geht es. Beinahe zum alleinigen Kriterium erhoben wird dabei irgendein ›subjektives Sicherheitsempfinden‹. Zunehmend prägt diese Haltung den herrschenden Diskurs und zieht eine Politik nach sich, die den öffentlichen Raum einer möglichst umfassenden Verwaltung unterwirft. Alle Formen des Dissenses dagegen scheinen diskreditiert. Jeder Konflikt, der nicht lediglich die Verwaltung des Status Quo variiert, stört den zum schützenswerten Gut verklärten Konsens. Gegen Unerwartetes, gegen grundsätzliche Auseinandersetzung und damit gegen Bestrebungen radikaler Veränderung dichtet sich das Bestehende so ab. Wo ein Konflikt explizite Formen annimmt, werden selbige sogleich zum Problem deklariert, bekämpft und zum Verschwinden gebracht. In der verwalteten Welt ist aller Widerspruch, der andere Regeln setzt, weil er mit den herrschenden nicht einverstanden ist, nichts anderes als ein Sicherheitsproblem. Die Gewalt, die dieser Ordnung selbst inhärent ist, sowie die Ursachen und die systemischen Zusammenhänge, die den verschiedenen Ausbrüchen von Gewalt zugrunde liegen, werden demgegenüber nicht thematisch und dadurch unsichtbar gemacht. Dies zeigt sich in der Abdichtung des Bestehenden und seiner Logik gegenüber dem Möglichen. Ein System, das die eigene Gewaltförmigkeit ausblendet, lässt jene, die unter seiner Herrschaft stehen, in Angst zurück. Angst aber, weil sie diffuses ist, sucht nach einer Symbolisierung dessen, was sie verursacht. In einem Klima diffuser Ängste lässt sich so Sündenbockpolitik betreiben. Und es verhindert zugleich, aus den Verhältnissen, die Angst hervorbringen, auszubrechen. Diese Gesellschaft, die sich in ihrem Bewusstsein und ihren Äusserungen gegen alle grundsätzlich anderen Möglichkeiten abdichtet, ist die Gesellschaft unter bürgerlicher Hegemonie: eine Hegemonie, die sich in westlich-»demokratischen« Gesellschaften eins ums andere Mal äussert als xenophober oder anderweitig Ausgeschlossene und Entrechtete definierender Konsens derer Stimmen, die bemächtigt sind, sich Gehör zu verschaffen. Die Durchsetzung dieses Konsenses ist gleichbedeutend mit Entsolidarisierung zwischen den einzelnen Menschen und zwischen verschiedenen Gruppen. In seiner Festigung und seinem Ausbau ist das Funktionieren der etablierten Demokratien – inkl. ihrer propagierten Ausgangspunkte, als da wären Freiheit, Menschenrechte und Menschenwürde – ad absurdum geführt. Konkret zeigt sich das in Verordnungen, die Vergehen definieren, welche jene zu Schuldigen werden lassen, für die die kapitalistische Gesellschaft kein Leben in Würde und Freiheit vorgesehen oder zu bieten hat. Wir sind Sozialschmarotzer, Asoziale, X, Sans-Papiers; und Legalität ist der Fetisch, der die Hintertreibung einstmals vom aufstrebenden Bürgertum aufgestellter ideologisch-ethischer Massstäbe rechtfertigt. Ironie der Geschichte? Werden Gesetze dazu verwendet, Gruppen zu definieren, auszuschliessen und zu entrechten, verlieren sie den letzten Anschein von Legitimität.

Jedoch. Durch die schiere Existenz derer, die sie zu verwalten, beherrschen und neutralisieren trachtet, ist die bürgerliche Gesetzgebung in Frage gestellt. Sie bedarf des Repressions- und Zurichtungswerkzeugs: Polizei, Schule, Kulturindustrie. Der Betrieb darf nicht gestört werden, Tsunamis zum Trotz; ruhig soll es bleiben im Lande. Umso mehr die Bourgeoisie auch den Klassenkampf von oben führt, ist ihr daran gelegen, selbigen nicht sichtbar werden zu lassen. Viel lieber doch verbirgt sie sich hinter Verwaltungsapparaten und ihre Interessen hinter ökonomischen Notwendigkeiten. Die bürgerlich verfasste Demokratie erweist sich denn auch als gleichbedeutend mit der Abschaffung des Politischen zugunsten der Verwaltung des Bestehenden. Politik demgegenüber, um sie endlich hervorzukramen, ist nicht ruhig, kann nicht auf sich sitzen lassen. Politik unterbricht – den Courant Normale, die Debatte, das Fliessband, den Verkehr. In ihr verlangen die Anteilslosen ihren Anteil, sagt Jacques Rancière. Ernsthaft: Weil wir nicht auf uns sitzen lassen wollen, überhaupt, weil wir nicht wollen, nicht verwalten und verwaltet werden, darum wollen wir Politik, unsern Anteil eben. Ohne »Gewalt« geht da nix? Wie lässt sich die bürgerliche Hegemonie, die sich als blosse Verwaltung des Bestehenden und seiner »Notwendigkeiten« ausdrückt, durchbrechen? Differenziertere Hinsichten sind gefragt. Daher: Wie lässt Gewalt sich sichtbar machen, darstellen, ausdrücken und einsehen? Wie sich analysieren? Und schliesslich wie sich real durchbrechen und überwinden?“

In dieser Einleitung zu dem Heft „Respektive. Gewalt, Angst und Politik“ von 2011 werden schon viele Aspekte der Gewaltdebatte aufgegriffen, auf die noch genauer eingegangen werden soll: Ein undifferenzierter Gewaltbegriff, unhinterfragte Grundannahmen, Symptombekämpfung, die Gewalt des „Normalzustands“, ein enger Rahmen der Debatte.

Diesem Rahmen der Debatte wollen wir uns nun zuerst annehmen. Der Begriff „Gewalt“ wird meist sehr diffus gebraucht beziehungsweise in Diskussionen oft nicht erklärt. Jemanden erschiessen – Gewalt. Jemanden durch subtile und weniger subtile gesellschaftliche Strukturen und Werte zwingen, sich und andere sowohl für die eigene Identität als auch für die Frage, wen man begehren soll, in die Kategorien von „Mann“ und „Frau“ einzuteilen – Gewalt? Dem Begriff „Frieden“ oder „friedlich“ geht es ähnlich. Frieden, ist das die Abwesenheit von Bomben und Soldaten? Friedlich sein, heisst das einfach, keine Steine auf Polizist_innen zu schmeissen? Wahrscheinlich ist es etwas komplizierter. Was ist denn der Ausgangspunkt, und wie frei können wir worüber entscheiden? Es ist meiner Meinung nach eine irreführende Frage nach der Entscheidung zwischen „Gewalt“ und “Gewaltfreiheit“. Sie suggeriert, dass es eine reine Frage der Entscheidung wäre, weil der „Normalzustand“ neutral oder „friedlich“ sei. Hat man aber die Analyse von einer bereits von Gewalt durchzogenen und auf Gewalt aufbauenden Gesellschaft, und will man etwas anderes, dann stellt sich die Frage, wie man mit der vorhandenen Gewalt umgeht, und wie man dorthin kommt, wo man hin will. Ob und wie man über diese Fragen diskutieren kann, hängt aber eben vom Rahmen ab, der meist sehr eng und gleichzeitig diffus wirkt. Für unsere Debatte müssen wir also zuerst einen eigenen Rahmen schaffen und wissen, wer die Begriffe wie verwendet. Sonst werden wir uns missverstehen. Die Frage nach dem, was wir eigentlich wollen, mit den „friedlichen“ oder „gewaltsamen“ Mitteln, geht oft verloren, wäre jedoch auch für diese Diskussion zentral. Für mich wäre das etwa das Ziel einer „freiwillig gewaltfreien“ Gesellschaft, in der die Menschen ihre Beziehungen ohne Herrschaft und deren Durchsetzung, zu der Gewalt benötigt wird, führen wollen. Oder um es mit Errico Malatesta zu sagen:

„Damit zwei in Frieden miteinander leben können, müssen beide den Frieden wollen; besteht nämlich einer der beiden darauf, den anderen mit Gewalt zwingen zu wollen, für ihn zu arbeiten und ihm zu dienen, dann wird dem anderen – trotz seiner Friedfertigkeit und seiner Bereitschaft zu gegenseitiger Übereinkunft – nichts übrig bleiben, als der Gewalt mit entsprechenden Mitteln Widerstand entgegenzusetzen, sofern er seine Menschenwürde behalten und nicht zu allerniedrigster Sklaverei verurteilt sein will.“
Handeln oder nicht Handeln kann je nach Blickwinkel gewaltvoll oder nicht sein. Es geht dabei um das Bewusstsein, dass wir in einem von Macht und Herrschaft durchzogenen System leben, das Gewalt ausübt, und ein Nicht-Handeln nicht gleichbedeutend mit einem sich Heraushalten ist, denn wir sind alle Teil des Ganzen. Wer nicht grundsätzlich gegen Herrschaft ist, kann des weiteren meiner Meinung nach nicht konsequent gegen Gewalt sein, sondern es geht dann um legitime oder illegitime Gewaltanwendung. Gewalt wird dann nämlich meist nur delegiert, an „legitime“ Institutionen des Staates etwa. Aber ich greife voraus. Zu den Begriffen und zum Rahmen müssen wir aber vorerst im Auge behalten, dass beide nicht einfach „gegeben“ sind, sondern sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzt: Der aktuellen Zeit (und damit ihrem Wissensstand und ihren Werten), den gesellschaftlichen Umständen, dem Weltbild, der eigenen Position, und vielem mehr. Behalten wir dies im Kopf und gehen erst einmal weiter zu möglichen Definitionen.

3. Gewaltbegriff

Es gibt keine allgemein anerkannte Definition des Begriffes Gewalt. Verschiedene Menschen, Wissenschaften und Weltsichten streiten sich, was alles darunter fallen soll. Was das in erster Linie zeigt, ist, dass wir unter uns klären müssen, was wir darunter verstehen. Ich werde hier einige Vorschläge zeigen, und andererseits problematische Definitionen einbringen. Ziehen wir erst einmal Wikipedia zu Rate, wird Gewalt wie folgend definiert:

„Als Gewalt (von althochdeutsch waltan „stark sein, beherrschen“) werden Handlungen, Vorgänge und soziale Zusammenhänge bezeichnet, in denen oder durch die auf Menschen, Tiere oder Gegenstände beeinflussend, verändernd oder schädigend eingewirkt wird. Gemeint ist das Vermögen zur Durchführung einer Handlung, die den inneren oder wesentlichen Kern einer Angelegenheit oder Struktur (be)trifft. Der Begriff der Gewalt und die Bewertung von Gewalt ändert sich im historischen und sozialen Kontext. Auch wird er je nach Zusammenhang (etwa Soziologie, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft) in unterschiedlicher Weise definiert und differenziert. Im soziologischen Sinn ist Gewalt eine Quelle der Macht. Im engeren Sinn wird darunter häufig eine illegitime Ausübung von Zwang verstanden. Im Sinne der Rechtsphilosophie ist Gewalt gleichbedeutend mit Macht (englisch power, lateinisch potentia) oder Herrschaft (potestas).“

Das zeigt schon einmal eine Richtung auf, aber ist noch nicht wahnsinnig präzise. Uri Gordon zeigt in seinem Buch mehrere Beispiele von Definitionen des Gewaltbegriffes: Peter Iadicola und Anson Shupe

„liefern eine Definition der Gewalt als »jegliches Vorgehen oder strukturelle Arrangement, das dazu führt, einen oder mehrere Menschen physisch oder nichtphysisch zu schädigen«. Dabei unterscheiden sie a) persönliche Gewalt »als Gewalt, die zwischen Menschen auftritt, die außerhalb ihrer Rolle als Agenten oder Repräsentanten einer gesellschaftlichen Institution handeln«; und b) gesellschaftliche Gewalt als 1) »Gewalt von Individuen, deren Handlungen von den Rollen bestimmt sind, die sie in einem institutionellen Rahmen spielen« und als 2) strukturelle Gewalt oder Schaden, der »im Zusammenhang mit der Etablierung, der Aufrechterhaltung, der Ausdehnung oder Reduzierung des hierarchischen Einordnens von Kategorien von Menschen in der Gesellschaft« verursacht wird. Demnach kann strukturelle Gewalt sowohl im Sinne der Hierarchie als auch gegen sie ausgeübt werden. Die Autoren führen weiter aus, dass Handlungen oder strukturelle Arrangements, die Schaden zufügen, willentlich aufrechterhalten, reproduziert oder geduldet sein müssen, um unter die Kategorie Gewalt zu fallen. Dabei ist in jedem Fall von Gewalt zu sprechen, unabhängig davon, ob zu schaden das primäre Ziel ist oder ob die Schädigung eher als vorhersehbares Nebenprodukt entsteht. Nach dieser Definition kann ein Gewaltakt gerechtfertigt sein oder auch nicht; er kann entweder das physische oder das psychische Wohlergehen beeinträchtigen oder auch beide; und er kann sowohl vom Täter wie vom Opfer (oder von beiden) als »Gewalt« aufgefasst werden oder auch nicht. Diese Formulierung vermeidet kulturellen Relativismus und versammelt alle Formen rassistischer und sexistischer Gewalt, auch wenn sie in einer Gesellschaft als vollkommen normal angesehen werden, unter dieser Definition.“

Uri Gordon selbst schlägt vor, mit folgender Definition zu arbeiten:

„Ein Akt ist als Gewalt zu bezeichnen, wenn ihn derjenige, gegen den er sich richtet, als Angriff oder absichtliche Gefährdung erlebt. Diese Definition umfasst alle Formen von Gewalt, die Honderich als »politisch« fasst, aber auch Gewalt in der persönlichen (= politischen) Sphäre. Sie lässt sich auch auf institutionelle oder strukturelle Gewalt ausdehnen, und auf gemeinsamen Grunderfahrungen von Menschen aufbauend, umfasst sie ganz eindeutig auch emotionale oder psychische Formen der Gewalt.“

Diese Definition klammert allerdings mit seinem auf Menschen und deren Wahrnehmung fokussierten Definition viele Dinge aus, die wir und andere wohl im Alltags-Sprachgebrauch noch unter „Gewalt“ fassen würden. So etwa Gewalt gegenüber Tieren, aber auch Gewalt gegen unbelebte Objekte, auch wenn in dem entsprechenden Augenblick, zu dem eine Handlung stattfindet, sich niemand direkt „angegriffen“ fühlt. Ob wir nun in unseren Diskussionen auf Gordons Gewaltdefinition zurückgreifen wollen, wird sich herausstellen, aber auch Erweiterungen wären möglich. Ich selbst finde eine Unterteilung in die Bereiche von physischer, psychischer und struktureller Gewalt sinnvoll, sowie eine Verbindung mit dem Begriff von Zwang und Macht. Strukturell heisst hier:

„Diesem erweiterten Gewaltbegriff zufolge ist alles, was Individuen daran hindert, ihre Anlagen und Möglichkeiten voll zu entfalten, eine Form von Gewalt. Hierunter fallen nicht nur alle Formen der Diskriminierung, sondern auch die ungleiche Verteilung von Einkommen, Bildungschancen und Lebenserwartungen, sowie das Wohlstandsgefälle zwischen der ersten und der Dritten Welt. Selbst eingeschränkte Lebenschancen auf Grund von Umweltverschmutzung oder die Behinderung emanzipatorischer Bestrebungen werden hierunter subsumiert. In dieser umfassenden Definition kann Gewalt nicht mehr konkreten, personalen Akteuren zugerechnet werden, sondern sie basiert nurmehr auf Strukturen einer bestehenden Gesellschaftsformation, insbesondere auf gesellschaftlichen Strukturen wie Werten, Normen, Institutionen oder Diskursen sowie Machtverhältnissen. Diese Begriffsbestimmung verzichtet auch auf die Voraussetzung, dass, um von Gewalt sprechen zu können, eine Person oder Gruppe subjektiv Gewalt empfinden muss. Strukturelle Gewalt werde von den Opfern oft nicht einmal wahrgenommen, da die eingeschränkten Lebensnormen bereits internalisiert seien.“

Diese Definition oder überhaupt das Konzept der „strukturellen Gewalt“ wird durchaus auch kritisiert, weil es in seiner Definition schon eine bestimmte Analyse der Verhältnisse beinhaltet (Gewalt ist den politischen Institutionen und Strukturen inhärent) und deshalb als Schlussfolgerung nur eine grundsätzliche gesellschaftliche Veränderung nach sich ziehen kann, will man diese Gewalt überwinden.

Problematische Definitionen von Gewalt wären etwa solche, bei denen „Illegalität“ oder „Autorität“ als der entscheidende Faktor angesehen werden. Gewalt wäre dann alles, was ein Gesetz als solche definieren und sanktionieren würde. Wenn man dieser Definition folgte, hiesse das, dass staatliche Strukturen oder andere Autoritäten von vorne herein als moralische Autoritäten anerkannt wären. Problematisch wären aber auch Argumentationen, wo das, was man tut, nicht als Gewalt bezeichnet wird, das Handeln der anderen aber schon. Hier geht es darum, die Fragen, was Gewalt ist, und wie sie gerechtfertigt werden kann, zu trennen, und nicht nur die eigene Argumentation stärken zu wollen.

4. Grundannahmen dieses Textes

Da eben nichts neutral ist, sollen auch die Grundannahmen dieses Textes hier noch präzisiert werden. Sehr stark vereinfacht beinhaltet diese Position folgende Punkte: Ich bin gegen Herrschaftsverhältnisse (weil ich das Leben in möglichst herrschaftsfreien Strukturen angenehmer, besser, gerechter finde), habe einen Wunsch nach grundsätzlicher gesellschaftlicher Veränderung, und sehe die herrschenden Verhältnisse als auf Zwang und Gewalt (direkt und indirekt) beruhend. Das beeinflusst natürlich meine Sicht auf das Thema insgesamt, auf die Terminologie, den Rahmen, die Analyse, die Gewichtung der einzelnen Themen. Trotzdem versuche ich, das Thema möglichst breit anzugehen und zu ordnen, um eine konstruktive Debatte zu ermöglichen. Ein wichtiger Punkt im Zusammenhang mit Diskussionen ist aber auch, dass man gewisse Grundannahmen teilen muss, um überhaupt miteinander diskutieren zu können. Es geht im Text nicht darum, eine abschliessende Antwort auf die Frage, ob „Gewalt angewendet werden soll oder nicht“ zu geben, sondern darum, für mehr Klarheit in der Diskussion zu sorgen. Mir geht es nicht darum, andere zu überzeugen, meine Meinung zu teilen, sondern darum, zu einer ehrlichen und konstruktiven Diskussion beizutragen, in dem alle Aspekte der Frage mit einbezogen werden, und sich jede_r der eigenen Grundannahmen und Begrifflichkeiten bewusst ist.

5. Gewalt anwenden

Wenn man nun eine passende Definition von „Gewalt“ gefunden hätte, stellen sich immer noch weitere Fragen. Was heisst etwa „Gewalt anwenden“?

„Denn diese Begrifflichkeit ist geeignet, fast jede Form politischen Vorgehens zu umschreiben, nicht zuletzt die juristische. Jeder Appell an den Staat, jede Form von Druck auf ihn, um ihn zur Unterstützung bestimmter Anliegen zu bewegen, ist implizit oder explizit ein Vorstoß dahingehend, seine Gewaltpotenziale für die eigene Seite nutzbar zu machen. Um es mit einem historischen Beispiel zu illustrieren: Der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wird oft zugute gehalten, dass sie sich gewaltfreier Mittel bedient habe, doch tatsächlich wurde die Abschaffung der gesetzlich geregelten Rassentrennung durch eine ganze Reihe eindeutig gewaltsamer staatlicher Interventionen durchgesetzt, insbesondere durch die Entsendung der Nationalgarde zur Überwachung der Aufhebung der Rassentrennung an den Schulen in manchen Südstaaten. Ähnlich sind auch rechtliche Schritte zum Schutz von Naturgebieten eindeutig Gewaltmittel: Erhält ein Rodungsunternehmen eine rechtliche Verfügung, die es dazu verpflichtet, sich aus einem Waldgebiet zurückzuziehen, so wird es dazu durch die Androhung einer Strafe gezwungen, hinter der letztendlich der bewaffnete Arm der Regierung steht. In letzter Konsequenz mag der Staat in solchen Fällen nicht tatsächlich physisch eingreifen, doch als Drohung steht das entsprechende Gewaltpotenzial bereit und kann eingesetzt werden, falls die juristisch bestätigte Forderung nicht erfüllt wird. Wählen wir also den Rechtsweg, legen wir damit nicht fest, dass Gewalt ausgeschlossen wird – wir überlassen lediglich dem Staat die Entscheidung darüber. Solche Überlegungen scheinen darauf hinauszulaufen, dass kaum noch etwas übrig bleibt, was man tatsächlich als »gewaltfreie Aktion« bezeichnen kann. Möglicherweise kommen überhaupt nur noch sehr passive Formen des Eingreifens infrage.“

Etwas, das „in der Öffentlichkeit“ als friedlich gilt, kann sehr gewaltsame Konsequenzen haben. Ein demokratischer, “friedlicher” Entscheid, weiterhin Rüstungsgüter zu verkaufen; jemanden weil er die falschen oder keine Ausweispapiere besitzt nicht an einem sichereren und angstfreierem Leben teilhaben lassen – Dinge die vielleicht erst einmal “friedlich” wirken, aber gewaltsame Konsequenzen haben können. Auch das muss man bedenken, will man ernsthaft über „Gewalt“ und wie man ihr gegenübersteht reden. Inwiefern macht man sich etwa bei der Duldung eines gewaltsamen Systems mitschuldig? Aus welcher Position kritisiert oder propagiert man etwas? Wenn es eine privilegierte Position ist, weil etwa „das Gesetz“ auf deren Seite steht, wie geht man damit um?

6. Historische Dimensionen der Gewaltdebatte

Noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert sahen die „Gewaltdebatten“ ganz anders aus. Attentate, gewaltsame Umsturze etc. lagen für viele Revolutionär_innen (und andere) noch sehr viel näher. Hier geht es nicht darum, über die „guten alten Zeiten“ zu sinnieren, sondern um ein Bewusstsein dafür, dass die heutige Gewaltdebatte unter bestimmten Voraussetzungen entstanden ist, und somit nicht einfach „ist“. In der Einleitung des Heftes „Respektive“ kam dieses Thema schon auf, und Uri Gordon verweist ebenfalls auf einen Text, der die Grundannahmen einer heutigen Debatte hinterfragt:

„Alles lässt sich mit Hilfe der vorherrschenden Gewaltfreiheits-Doktrin als nicht gerechtfertigt abstempeln, wenn man es als Gewalt bezeichnet (wie immer diese definiert werden mag). (…) [Gewalt] wird mit dem Unkontrollierbaren, dem Abnormalen und dem Kriminellen assoziiert und löst bei den Vertretern der Linken unbewusste Ängste aus. Ihr wesentliches Interesse als Angehörige der Mittelschicht besteht darin, ihre gesellschaftliche Position nicht aufs Spiel zu setzen, weshalb sie nicht bereit ist, tatsächlich für eine klassenlose Gesellschaft einzutreten.

Gestützt werden diese Überlegungen auch durch die Analyse des Soziologen Zygmunt Bauman, der eine solche Einstellung gegenüber der Gewalt allgemeiner als Teil eines hegemonialen gesellschaftlichen Diskurses der Moderne interpretiert. Bauman zeigt, dass die diskursive Verbindung von Gewalt und Abnormalität bzw. Kriminalität dazu dient, normalisierte und legitimierte Gewaltanwendung zu verschleiern, die mindestens genauso schwerwiegend sein kann. So wird häufig von polizeilicher Gewalt erst dann gesprochen, wenn die Polizei den Rahmen ihres Auftrags überschreitet und »übertriebene Gewalt« anwendet, nicht aber, wenn sie sich bei der Gewaltanwendung im Rahmen ihres Auftrags bewegt (was ohne Weiteres bedeuten kann, dass sie ihren Knüppel oder sogar die Schusswaffe einsetzt). Bauman führt dieses Paradox auf eine speziell in der Moderne entwickelte Ambivalenz im Zusammenhang mit Macht, Gewalt und Zwang zurück. Er behauptet, dass die vorgeblich humanistischen Ansprüche der Aufklärung am Werk sind, wenn die Moderne als Prozess wahrgenommen wird, durch den Gewalt und Brutalität allmählich aus den gesellschaftlichen Beziehungen verschwinden. Um diese Sicht aufrechtzuerhalten, muss jedoch von der Tatsache, dass die Gewalt keineswegs verschwunden, sondern nur anders verteilt ist, abgelenkt werden. Folter, öffentliche Exekutionen oder die ungezügelte Gewalt regulärer Truppen mögen in modernen westlichen Gesellschaften nicht mehr vorkommen, doch werden diese Formen von Gewalt nach wie vor in Stellvertreter-Konflikten in der postkolonialen Welt angewandt, und innerhalb westlicher Gesellschaften sind sie durch Gewaltanwendungen ersetzt worden, die unblutiger und »sauberer« und dennoch kaum weniger grausam sind: Exekutionen durch tödliche Injektion, Brutalität in den Gefängnissen, Zerstreuung von Menschen-mengen mittels chemischer Waffen etc. Um den Eindruck aufrechtzuerhalten, dass Gewalt in den gesellschaftlichen Beziehungen abnimmt, wird das Wort selber mit den Adjektiven legal/illegal, legitim/illegitim, normal/unnormal aufgespalten in »gute« und »schlechte« Gewalt, wobei die positive nicht als solche bezeichnet wird, sondern als Maßnahme im Sinne von Bestrafung bzw. Durchsetzung von Recht und Ordnung. Die »schlechte« Gewalt hingegen wird als solche benannt und verurteilt. Darin kommen Furcht und Erschrecken als Reaktion auf das Unerwartete und das Unkontrollierbare zum Ausdruck. Ich möchte mich diesen Überlegungen anschließen und dafür plädieren, dass Diskussionen über Gewalt diesen Kontext berücksichtigen sollten, um nicht unkritisch in die vorherrschenden Diskursmuster zu verfallen.“

7. Auf welcher Ebene?

Die nächste Frage ist, auf welcher „Ebene“ wir über Gewalt reden. Geht es um Moral, Legitimität, Legalität, Strategie? Auch das muss geklärt werden, will man konstruktiv miteinander diskutieren, und nicht aneinander vorbei. Die Ebenen sind durchaus nicht immer so sauber voneinander trennbar, aber um gemeinsam zu diskutieren sollten wir doch in etwa wissen, worum es uns gerade geht.

7.1 Rechtfertigung/Moral
Hier geht es also um den Bereich der Werte, dessen, was man für gut und richtig hält, und um die Begründung dieser Annahmen und damit verbundener Handlungsweisen. Was sind unsere Ideale, wie entstehen sie, und welchen Stellenwert haben sie für unser Handeln? Das lässt sich wohl nicht alles direkt in der Diskussion herausfinden, aber sollte uns doch als Fragen im Hinterkopf präsent bleiben.

Unsere Analyse der Situation, der Gesellschaft und unserer Position darin hat entscheidend damit zu tun, was Gewalt für uns bedeutet und wie wir zu ihr stehen. Gewalt kann als schlecht angesehen werden, weil dadurch Leid verursacht wird (und Leiden vermieden werden soll) oder weil eine bestimmte Ordnung in Frage gestellt wird. Was wieder von den eigenen generellen Grundannahmen und Idealen geprägt ist: Habe ich Ideen von „Gleichheit“, „Gerechtigkeit“, richte ich mich nach „Bedürfnissen“, und so weiter und so fort. Gewalt “schlecht” zu finden ist aus meiner Sicht zwar “gut”, aber muss noch weiter präzisiert werden. Was für Konsequenzen zieht man aus dieser Haltung? Mache ich was gegen die Gewalt, in dem ich sie einfach schlecht finde, und was, wenn das nicht reicht? Finde ich das staatliche Gewaltmonopol richtig, weil sonst Chaos und “Mord und Totschlag” herrschen würde? Gibt es nicht doch Situationen, in denen ich Gewalt angebracht finde? Fragen über Fragen.

Eine Form von Gewalt, die nahezu überall anerkannt ist und sich nicht gross rechtfertigen muss, ist die „Selbstverteidigung“. Menschen wird zugestanden, sich im Falle eines direkten Angriffes auf Leib und Leben gewaltsam zu wehren. Wie „verhältnismässig“ dieses Wehren sein soll, um juristisch noch als Selbstverteidigung/Notwehr anerkannt zu sein variiert an verschiedenen Orten stark. Über die Definition der “strukturellen Gewalt” wurde die Frage aufgeworfen, ob man “Selbstverteidigung” nicht breiter definieren könne, als nur den direkten physischen Angriff. Was nutzt es, sich etwa gegen rassistische Angriffe auf der Strasse wehren zu können, wenn man sich nicht gegen diejenigen wehren kann, die ein fremdenfeindliches Klima schaffen? Ich darf mich gegen den Typen wehren, der mir an den Arsch fasst, aber nicht gegen den Konzern, der Frauenkörper aus Profitgründen zu Sexobjekten macht? Oder alles nur mit demokratischen, “friedlichen” Mitteln? Ich stelle hier einerseits in Frage, dass nur legitim ist, wass auch legal ist, und andererseits, dass ein sich (auch gewaltsames) Wehren nur bei direktem physischen Angriff berechtigt ist. Alle Gewalt, die man rechtfertigen will, als Selbstverteidgung zu bezeichnen, wird allerdings auch wieder problematisch und zu einfach. Gewalt im Sinne von Herrschaft sollte meiner Meinung nach möglichst vermieden werden, aber ich betrachte sie durchaus in gewissen Situationen als notwendig, will man nicht nur in völliger Passivität und Beherrschtheit verharren. Dass man Gewalt “schlecht” findet und möglichst vermeiden will sagt also noch nichts über die konkreten Folgen für mein Handeln aus.

7.2 Strategie
Neben der Moral, oder mit ihr im Zusammenspiel, gibt es auch noch die Strategie. Wie kommen wir langfristig am besten an unser gewünschtes Ziel? Strategiefragen lassen sich in verschiedene Themen unterteilen.

7.2.1 Mittel und Ziele
In wiefern müssen Mittel und Ziele übereinstimmen? Der Zweck, der die Mittel “heilige” ist nicht unbedingt ein Konzept, das ich ansprechend finde. Bis zu einem gewissen Grad sollten die Ideale, die man vertritt und anstrebt, auch in den angewendeten Mitteln, und allgemein in der Art, wie man sein Leben gestaltet, sichtbar sein. Heisst das nun aber, dass, wenn man einen möglichst gewaltfreien Umgang miteinander anstrebt, man auch selber keine Gewalt einsetzen darf? Uri Gordon fragt,

„ob Gewalt jemals mit Strategien zusammengehen kann, die selber im Kern bereits eine anarchistische Gesellschaft vorwegnehmen. Anders gesagt: Wie passt Gewaltanwendung mit einer vorwegnehmenden Politik zusammen, einer Politik, die auf die Herbeiführung einer grundsätzlich anderen Gesellschaft abzielt? Im Unterschied zu anderen revolutionären Bewegungen distanzieren sich Anarchisten von der Position, dass der Zweck die Mittel heilige. Sie können nicht behaupten, dass Gewalt, egal auf welchem Niveau, gerechtfertigt sei, nur weil sie dazu beitrage, eine freie Gesellschaft herbeizuführen. Sie gehen vielmehr davon aus, dass Zweck und Mittel sich immer substanziell gleichen sollten. Aber trifft es tatsächlich zu, dass Anarchisten unbedingt eine gewaltfreie Gesellschaft und nichts als das anstreben? Eine solche Gesellschaft wäre auch denkbar unter einem hypothetischen totalitären Regime, das mit der Androhung drakonischer Maßnahmen für Friedhofsruhe sorgt. Anarchisten streben selbstverständlich etwas grundsätzlich Anderes an: eine freiwillig gewaltlose Gesellschaft ohne Staat. Im Übrigen ist die Gewalt, die Anarchisten in erster Linie abschaffen wollen, die der gewaltsamen Durchsetzung staatlicher Maßnahmen und Gesetze und allgemein institutionelle Gewalt – Formen von Gewalt, die Anarchistinnen und Anarchisten sicher selber nicht benutzen. Was nun ein nichtinstitutionalisiertes, sporadisches und diffuses Vorkommen von Gewalt angeht, trifft es nicht zu, dass die anarchistische Vorstellung von den anzustrebenden gesellschaftlichen Verhältnissen solche Gewalt ausschließt. Wenn und solange alle Beteiligten freiwillig übereinkommen, dass es sie nicht geben soll, wird es diese Gewalt nicht geben, doch die Zielvorstellung, sie ein für alle Mal zu eliminieren, ist nicht nur illusionär – es wird sie auch in einer Welt ohne Staaten und bewaffnete Gruppen geben –, sondern auch nicht in Übereinstimmung zu bringen mit dem Prinzip der grundsätzlichen Unabgeschlossenheit des Prozesses auf dem Weg zu einer anarchistischen Gesellschaft (siehe Kapitel 2). Heute ist die vorwegnehmende Verwirklichung eines anarchistischen Modells freiwilliger Gewaltfreiheit eindeutig nicht umzusetzen, weil der Staat dem entgegensteht und systematisch Gewalt einsetzt, die Idee einer universellen Übereinkunft über die Gewaltfreiheit also vereitelt. Jedenfalls bezüglich der Gewalt ist eine vorwegnehmende Politik heute nur innerhalb anarchistischer Zusammenhänge zu verwirklichen. Die kann geschehen, indem wenigstens in der Bewegung selber gesellschaftliche Beziehungen ohne Gewalt und stattdessen mit den Mitteln friedlicher Konfliktbearbeitung, der Mediation oder – bei unüberbrückbaren Differenzen – der Trennung angestrebt werden. Schließlich ist es auch nicht ganz abwegig zu behaupten, dass anarchistische Gewalt gegenüber dem Staat tatsächlich eine Vorwegnahme anarchistischer gesellschaftlicher Beziehungen ist. Denn Anarchisten würden auch immer erwarten, dass selbst in einer »anarchistischen Gesellschaft« die Menschen bereit wären, diese, notfalls mit Gewalt, zu verteidigen, sollte es den Versuch geben, soziale Hierarchien wieder einzuführen oder sie anderen aufzuzwingen. Gewalt, die sich gegen die (Wieder-)Einführung einer hierarchischen gesellschaftlichen Ordnung wendet, ist also heute ebenso eine angemessene Reaktion, wie sie es in einer Gesellschaft ohne staatliche Strukturen wäre. So viel zur Behauptung, Gewalt könne von Anarchisten niemals gerechtfertigt werden. Doch es bleibt die Verantwortung von Anarchisten zu begründen, welche Gewalt tatsächlich gerechtfertigt werden kann und mit welchen Argumenten.“

Eine andere Antwort auf die gleiche Frage liefert der Text “Gewaltfrei oder militant, wichtig ist der Widerstand!”:

„“Wir können eine gewaltfreie Welt nicht mit Gewalt erreichen”: Gleichbedeutend wären: Der Zweck heiligt nicht die Mittel, oder: Wer gegen Gewalt ist, darf sie nicht anwenden. So oder auf ähnliche Weise wird die Forderung nach gewaltfreier Aktion oft begründet. Dieses Argument klingt zunächst plausibel und wird deshalb in den Vordergrund gestellt. Bei näherer Betrachtung ist es allerdings wenig gehaltvoll. Zum einen fehlt eine Begründung dieser Behauptung, meist wird sie als sich selbst begründendes Axiom hingestellt, das keiner zusätzlichen Begründung bedarf. Das aber ist schon als solches fraglich. Jede strategische Position muß hinterfragbar sein. Zum zweiten, und viel offensichtlicher, würde die Grundaussage selbst ad absurdum führen, wenn sie mit anderen Inhalten gefüllt würde: Kann Umweltschutz nur auf umweltgerechte Art und Weise durchgesetzt werden? Dann dürfte es schwierig sein, überhaupt noch zu agieren. Kann eine herrschaftsfreie Welt nur erreicht werden über Strukturen, die herrschaftsfrei sind? Der Wille dazu und die Arbeit daran sind wichtig, aber ihre Erfüllung als Voraussetzung zu nehmen für politische Aktion, heißt in der Praxis, nicht agieren zu können. Zusammengefaßt muß klar sein: Politische Positionen zu verwirklichen, ist überall wichtig – in jeder politischen Aktion, in Gruppen und im Alltag. Ihre Verwirklichung aber bereits als Voraussetzung einzufordern, macht politisch handlungsunfähig. Letztlich fordern gewaltfreie Gruppen das auch gar nicht. Sie wollen allein, daß ihr Anliegen als einziges so bewertet wird.“

Mittel und Ziele sollten also in einem angemessenen Verhältnis stehen, aber dies führt nicht automatisch dazu, dass gewaltsames Handeln ausgeschlossen wird.

7.2.2 „Effektivität“
Auf der strategischen Ebene geht es vor allem um die Frage, ob gewaltsame Mittel dazu geeignet sein können, uns unseren Zielen näher zu bringen oder nicht. Hier stellt sich die Frage, ob ein Mittel legitimer wird/ist, wenn es tatsächlich zu einer Veränderung in die angestrebte Richtung führt, also “effektiv” ist. Natürlich besteht hier die Problematik, die Folgen der jeweiligen Handlungen überhaupt einschätzen zu können. Dies wäre aber notwendig, wollte man die Berechtigung einer Aktion(sform) vor ihrem Einsatz einschätzen können. Man kann sich Mühe geben, und versuchen, alle Faktoren miteinzubeziehen. Aber sicher voraussagen zu können, was eine Aktion nach sich zieht, wird man nie können, weswegen die mögliche Effektivität zwar Gewicht hat, aber nicht Hauptentscheidungsmerkmal sein kann.
Von Gegner_innen gewaltsamer Mittel wird oft angeführt, dass Gewalt nur zu mehr Gewalt führt, dass Gewalt „die Sache“ delegitimieren würde (Gewalt „überschattet“ Inhalte oder macht moralisch unglaubwürdig), dass, wenn man gegen Gewalt sei, man selber keine Gewalt anwenden dürfe. Die hier aufgeführten Argumente von Gegner_innen gewaltsamer Mittel sind eine Mischung aus moralischen und strategischen Gründen. Einerseits wird Gewalt als etwas moralisch verwerfliches angesehen, dass möglichst vermieden werden muss, auch um die eigenen Inhalte „in der Öffentlichkeit“ nicht durch den Einsatz „schlechter“ Mittel von Anfang an zu delegitimieren, aber auch wegen der Zweck-Mittel-Relation, zu der jedoch weiter vorne schon etwas gesagt wurde. Andererseits wird auch der strategische Nutzen von Gewalt angezweifelt, da sie nur zu „noch mehr Gewalt“ der Gegenseite führe, und somit das Gegenteil dessen bewirke, was man eigentlich wolle. Dass man die Situation eigentlich nur noch schlimmer mache, als sie schon ist.

Das Argument liesse sich an verschiedenen Beispielen widerlegen: So zeigen etwa Studien zum Thema sexualisierter Gewalt, dass Frauen, die angegriffen werden und sich wehren, nicht mehr Gewalt ausgesetzt sind, also solche, die aus Angst keine Gegenwehr leisten. Im Gegenteil, der Angriff wird dann eher abgebrochen. Da es um Macht geht sucht man Opfer und keine Gegner. Es wird zwar schwieriger, wendet man diese Herangehensweise auf grössere gesellschaftliche Strukturen an, aber auch hier werden Kosten-Nutzen-Analysen getroffen, und wenn der Preis zu hoch ist, wird man sich eher überlegen, wie man gegen einen Gegner vorgeht. Jeder Krieg, jede Form von Repression funktioniert ja auch nach dem Prinzip. Sicher ist ein gesamtgesellschaftlicher Wandel, und das Anstreben einer möglichst herrschaftsfreien Gesellschaft etwas anderes, als etwa eine Krieg zwischen zwei Nationalstaaten, und der “Erfolg” des einen nicht unbedingt mit dem anderen vergleichbar. Aber wenn die eine Seite (etwa der Staat) einfach nur gewinnen will, und die andere Seite nichts als “gewaltfreien Widerstand” entgegensetzen kann, entscheide ich zumindest mich nicht für einen scheinbar moralisch einwandfreien aber unwirksamen Untergang.

Für die Polizei, die entscheiden muss, wann und wie sie bei politischen Aktionen eingreift, ist es oft eine Abwägungsfrage (Verhältnismässigkeitsprinzip), und durch das in die Höhe treiben der Kosten für einen etwaigen Eingriff kann man durchaus Vorteile erwirken. Miteinbeziehen sollte man aber durchaus auch die Frage, wer in Sachen „Gewaltmittel“ am längeren Hebel sitzt, etwa im Bezug auf das Verhältnis von Staat und Aktivist_innen, wer welchen Druck ausüben kann und wer was zu verlieren hat. Zu viel Druck am falschen Ort oder ohne die nötige Machtposition kann tatsächlich sehr negative Folgen für die eigene Seite haben. Hier lässt sich deshalb keine generalisierte Aussage zur „Effektivität“ und dem richtigen Zeitpunkt machen.

Die Haltung gegen den Einsatz gewaltsamer Mittel beinhaltet oft aber auch die (implizite) Überzeugung, dass man allein bzw. ausschliesslich mit „friedlichen“ Mitteln eine grundsätzliche Veränderung herbeiführen kann. Denn wenn man zwar von der Effektivität gewaltsamer Mittel überzeugt wäre, aber aus moralischen Bedenken darauf verzichten würde, wäre das allein eine Zementierung der herrschenden Verhältnisse, in denen man sich einrichtet, um nichts „falsches“ zu tun. Diese Argumentation wird bei Peter Gelderloos („How Nonviolence Protects the State“) ausführlich auseinandergenommen und ich beschränke mich deshalb auf eine kurze Zusammenfassung und empfehle die Lektüre. Nach Gelderloos ist, durchaus provokant formuliert, das Bestehen auf Gewaltfreiheit „ineffektiv, rassistisch, patriarchal und wahnhaft“. Das Beharren auf „Gewaltfreiheit“ sei, grob Zusammengefasst, ein Versuch, moralisch „rein“ zu bleiben – meist aus eine privilegierten Position heraus. Aus einer oft weissen, männlichen, mittelständischen und damit in unserer Gesellschaft privilegierten Position wird von anderen in weniger privilegierten Positionen verlangt, geduldig Leid zu ertragen und durch das Appellieren an die Öffentlichkeit oder staatliche Stellen etwas zum Besseren zu ändern. Die Hoffnung der Vertreter_innen dieser Position liegt darin, durch eine moralisch überlegene Position andere zu überzeugen, inklusive derjenigen, die von den jetzigen Macht- und Gewaltverhältnissen profitieren, die dann, so die Idee, freiwillig auf die Bitten und Argumente der „Gewaltfreien“ eingehen werden. Dies, samt der damit verbundenen Argumentation (etwa der Versuch, mit historischen Beispielen zu argumentieren, wo dies funktioniert hätte) zweifelt Gelderloos stark an. Die beliebtesten Beispiel bei dieser Art der Argumentation sind Gandhi und Martin Luther King. Es lohnt sich durchaus, einen näheren Blick auf diese Beispiele zu werfen, um zu sehen ob das dargestellte Bild seine Berechtigung hat. Einerseits kann man sich fragen, was tatsächlich erreicht wurde, und ob dies ausschliesslich mit „friedlichen“ Mitteln geschah. Andererseits drängt sich auch die Frage auf, welche Wichtigkeit historische Beispiele für unser heutiges Handeln haben, da es immer ganz bestimmte Umstände sind, die nicht genau reproduzierbar sind. Nehmen wir uns einem der beiden Beispiele aber kurz an. Was wurde erreicht, was waren die Ziele?

In Indien ging es um die Unabhängigkeit vom Britischen Empire, und der Erfolg wird alleine Gandhi und seinen Anhänger_innen mit ihrem massenhaften zivilen Ungehorsam zugeschrieben. Nun kann man mehrere Fragen aufwerfen. Erst einmal generell: Was wurde konkret erreicht, ist das besser als vorher, und kann man es mit dem vergleichen, was wir wollen? Indien befindet sich heute nicht mehr unter direkter Britischer Herrschaft, das stimmt. Es gibt aber durchaus Analysen, die einen Transfer von direkter kolonialer Herrschaft zu einer Form des Neokoloniamlismus feststellen, da Indien auf wirtschaftlicher und auch noch politischer Ebene weiterhin an das Britische Empire gebunden war. Es wurde insgesamt auch kein grundsätzlicher gesellschaftlicher Wandel umgesetzt, wenn auch gewisse Umstände  nach dem Ende der Britischen Herrschaft sicher besser waren. Die breiteren historischen Umstände, wie die Schwäche des Empires nach zwei sehr gewaltsamen und verlustreichen Weltkriegen sowie auch anderer, durchaus gewaltsamer Widerstand in Indien selber, sollten miteinbezogen werden. Aus eigener Erfahrung sollten wir Wissen, dass in sozialen und politischen Kämpfen nie nur eine Praktik angewandt, nie nur eine Gruppe aktiv ist. In der indischen Unabhängigkeitsbewegung gab es auch Gruppen und Personen, die sich gewaltsamer Widerstandformen bedienten, wie etwa Chandrasekhar Azad oder Bhagat Singh. Dies wird in der Geschichtsschreibung meist ausgeblendet, und nur der friedliche, märtyrerische Gandhi gezeigt.Die Person Gandhi und ihre Haltung lassen sich dabei durchaus kritisieren. Mohandas Karachmand Gandhi (Mahatma ist ein sanskritischer Ehrenname und bedeutet “grosse Seele”), der aus einer wohlhabenden indischen Familie kam, in England ein Rechtsstudium abschloss, und strenggläubiger Hindu war, vertrat einen absoluten Pazifismus, der bis zur Selbstaufgabe reichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg sagte er in einem Interview etwa:

“Hitler tötete fünf Millionen Juden. Es ist das größte Verbrechen unserer Zeit. Aber die Juden hätten sich selbst dem Messer des Schlächters ausliefern sollen. Sie hätten sich selbst von den Klippen ins Meer werfen sollen.”

Aus dem Zusammenhang gerissene Zitate und Beispiele zur Nazizeit sind natürlich problematisch und immer Totschlagargumente, aber letzten Endes muss sich eine Haltung auch in heftigen Situationen bewähren. Wenn jemand tatsächlich die Meinung vertritt, dass man sich in einer totalitären Diktatur nicht wehren soll, um damit eventuell doch noch das Gewissen der faschistischen Mörder zu bewegen, kann diese Person das gerne machen. Andere dazu aufzufordern, das gleiche zu tun, finde ich hingegen sehr frech. Zu behaupten, das was Gandhi und seine Mitstreiter_innen mit zivilem Ungehorsam erreicht hätten, auch auf alle möglichen anderen Ziele und Situationen anwenden zu können ist ebenfalls fragwürdig. Zu Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung in den USA liessen sich ähnliche Sachen sagen. Abgesehen davon, dass beide Bewegungen, und diese Art des Pazifismus, stark religiös geprägt sind (Hinduismus, Christentum), und damit für mich schon an sich hinterfragenswert sind, blendet diese Art der historischen Beispiele die gesamte andere Bandbreite des Widerstands aus, hat einen totalitären Anspruch und ist für die Gegenseite besser zu managen als eine Widerstandsbewegung, die vielfältig und solidarisch agiert.

7.2.3 Aussenwirkung/Image
Ich verweise für diese Frage auf den Text “Gewaltfrei oder militant, wichtig ider der Widertsand!”

8. Gewaltfrage als Spaltungslinie?

Die Frage, wie man zu Gewalt steht, wird oft als grundsätzliche Trennungslinie wahrgenommen. Warum diese Trennung für politische Bewegungen problematisch ist, soll hier aufgezeigt werden. Der vorherrschende (verkürzte und verschiedenste implizite Grundannahmen voraussetzende) Diskurs zur Gewaltfrage führt meist zur Zweiteilung von Bewegungen in einen “friedlichen” und eine “gewalttätigen” Teil ein. Diese Praxis ist hier in der Schweiz auch bekannt als die “Arbenz-Strategie”, nach dem Autor einer Studie aus dem Jahr 2001 zu den WEF-Protesten. Die Spaltung in friedlichen, legitimen (und legalisierbaren) Protest und gewalttätige Aktivist_innen bzw. Chaoten oder Terroristinnen, macht es einfach, erstere zu integrieren und ruhig zu stellen und letztere ins Abseits zu drängen und zu kriminalisieren. Der Bericht stellt folgendes fest:

„Im Zeichen der Globalisierung und der sich ausweitenden Gegenbewegungen mussten in den letzten Jahren die Sicherheitsvorkehrungen rund um das WEF verstärkt werden. Bereits in den Jahren 1999 und 2000 kam es zu militanten Demonstrationen, die im 2001 einen Höhepunkt erreichten.(…) Falls sich die Demonstrationen und gewaltsamen Ausschreitungen sowie auch die repressiven Massnahmen ausweiten, immer extremere Formen annehmen und zu einer Kostenexplosion im Sicherheitsbereich führen, wird die politische Unterstützung und Akzeptanz [für das WEF] schwinden. (…) Das WEF, das sich als internationale Dialog-Plattform versteht,hat immer mehr Nichtregierungs-Organisationen zur Teilnahme zu seinen Veranstaltungen eingeladen und ist auf deren kritische Einwände eingegangen. Diese Grundeinstellung kam auch beim WEF Jahrestreffen 2001 in Davos zum Ausdruck. Das WEF bekräftigt auch seine Verpflichtung, Nichtregierungs-Organisationen und Einzelpersonen, die in einem offensichtlichen Konflikt mit der freien Marktwirtschaft stehen, weiterhin in einen konstruktiv-kritischen Globalisierungsdialog einbeziehen zu wollen. Leider steht aber auch fest, dass es radikal orientierte Organisationen gibt, die nicht an einem solchen Dialog interessiert sind und sich stattdessen auf Protestkundgebungen ohne Gewaltverzicht konzentrieren möchten. (…) [Es] ist ein aktiver Dialog zwischen dem WEF und den Basisbewegungen anzustreben. Vordringlich ist deshalb, ein geeignetes Gefäss zu schaffen,das einen gemeinsamen Dialog über die unterschiedlichen Auffassungen (z.B. betreffend Globalisierung, etc.) ermöglicht. Dabei sind die Medien als verbindendes Glied zu verstehen. Der Staat und die allgemeine Öffentlichkeit sollen diesen Dialog nach Massgabe ihrer Möglichkeiten fördern und aktiv mittragen. Gewaltorientierte, die an einem echten und offen geführten Dialog nicht interessiert sind und ihn ablehnen, sind unerwünscht und müssen mit polizeilichen Sanktionen und strafrechtlicher Verfolgung rechnen. (…) Anzustreben sind die Ausarbeitung von Rahmenbedingungen und Sicherheitsventilen für gewaltfreie Begegnung sowie kritische Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Lagern in demokratisch-zivilisierten Dialogsformen. Anzustreben ist ferner die systematische Stärkung des zum Gewaltverzicht bereiten Kerns der Basisbewegungen und damit verbunden die konsequente De-Legitimisierung gewaltorientierter Randgruppen.“

Mit dem Diskurs über “friedlichen Protest” wird ein Rahmen für “Kritik” kreiert, der die herrschende Ordnung nicht stört und der als ungefährlich eingestuft wird. Damit einer Bewegung dieser ungefährliche Rahmen zugestanden werden kann, wird von den friedlichen Teilnehmenden verlangt, dass sie sich in aller Form von den gewalttätigen distanzieren, weil diese den Rahmen gefährden würden. Dies führt dazu, dass etwa innerhalb einer Demonstration Leute die befriedenden Aufgaben der Polizei übernehmen – aus Angst, diesen Rahmen zu verlieren. Dies ist aus einer an Emanzipation interessierten Perspektive sehr problematisch. Eine Bewegung ist meist dann am stärksten, wenn auf den verschiedensten Ebenen aktiv ins Geschehen eingegriffen wird, und man nicht auf die „Teile-und-Herrsche“-Strategie eingeht. Natürlich ist dies schwierig und erfordert viele Diskussionen und ein gewisses Vertrauen in die anderen aktiven Menschen. Ich will mit diesem Text und den Diskussionen einen Teil dazu beitragen, um Spaltungen, zumindest zu dieser Frage, zu vermeiden. Das Thema der „Befriedung“ und Spaltung von Bewegungen lässt sich auch mit dem aktuellen Bereich der „Aufstandsbekämpfung“ verknüpfen, einer Strategie von seiten des Staates, um Revolten, Aufstände und überhaupt effektiven Widerstand zu verunmöglichen. Neben vielen anderen Ebenen spielt dabei die Schwächung des Gegners durch Spaltung, Integration und Auslöschung der “Unbelehrbaren” ein wichtige Rolle.

9. Und jetzt?

Letzten Endes ist die Frage der „Gewalt“ ein Dilemma, dem sich jeder einzelne und jede Gruppe stellen muss, und die wohl nie eindeutig und abschliessend beantwortet werden kann. Dieser Text soll als Input für eine gemeinsame Diskussion dienen. Ich würde mich freuen, wenn auch andere Lust hätten, ihre Positionen oder Denkanstösse in schriftlicher Form festzuhalten, damit auch Menschen, die nicht an der Diskussion teilnehmen können, einen Einblick bekommen, und unsere Diskussion auch andere weiterbringen kann. Ich komme hier für mich zu folgendem Schluss: Einerseits habe ich gewisse Ideale (keine Herrschaft, Selbstbestimmung, Solidarität, Antikapitalismus), andererseits eine bestimmte Analyse (Kapitalismus und Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus und Sexismus gewaltsam, es braucht eine grundsätzliche gesellschaftliche Veränderung) und Schlüsse (jetziger Zustand nicht allein mit friedlichen Protesten überwindbar), was noch nichts über die jeweils konkrete Situation sagt (welche Mittel/Aktionsformen man in welcher Situation für sich vertretbar findet). Ich verlange nicht, dass andere diese Meinung teilen, aber wünsche mir, dass sie diese zu verstehen versuchen. Ausserdem wünsche ich mir folgendes: Konstruktive Diskussionen (klar machen wovon man spricht und Erklärung der eigenen Grundannahmen), Akzeptanz anderer Meinungen (kein absoluter Wahrheitsanspruch,) in der Praxis die „diversity of tactics“, keine öffentlichen Distanzierungen oder Denunzierungen von Aktionen. Weder eine Dämonisierung der Gewalt noch ein zum Fetisch machen und abfeiern. Keine Konstruktion einer „Identität“ aus der Gewaltfrage („Scheiss Hippies“, „Scheiss Chaoten“). Auf eine Auseinandersetzung, die uns alle weiter bringt.

 


 

Fussnoten

1 Vorherrschaft oder Überlegenheit einer Institution, eines Staates, einer Organisation oder eines ähnlichen Akteurs in politischer, militärischer, wirtschaftlicher, religiöser und/oder kultureller Hinsicht.

2 Xenophobie (gr. „Fremdenangst“) bezeichnet eine ablehnende, ausgrenzende oder feindliche Haltung gegenüber Personen oder Gruppen, die als andersartig gesehen werden. Dabei kann die Ablehnung mit echten, vermeintlichen oder angeblichen sozialen, religiösen, ökonomischen, kulturellen oder ethnischen Unterschieden begründet werden.

3 Jacques Rancière (* 1940 in Algier) ist ein französischer Philosoph, der vor allem für seine Arbeiten zur politischen Philosophie und zur Ästhetik bekannt ist.

4 Editorial Respektive, S. 3ff.

5 Malatesta, Anarchie und Gewalt

6 Wikipedia, “Gewalt” (5.8.2014)

7 Gordon, S. 135f.

8 Ted Honderich ist ein politischer Theoretiker, der weiter vorne im Buch erwähnt wird.

9 Gordon, S. 140.

10 Wikipedia, “Strukturelle Gewalt” (3.8.2014)

11 Herrschaftsfreiheit ist dabei ein Ideal, das angestrebt wird, das man aber womöglich nie ganz erreichen wird.

12 Gordon, S. 150f.

13 Gordon, S. 123ff.

14 Gordon bezieht sich an dieser Stelle auf den Text „Beyond the Corpse Machine“ von Ashen Ruins.

15 Zwiespältigkeit, Mehrdeutigkeit

16 Gordon, S. 127ff.

17 herrschaftslosen

18 Problematische Formulierung, da es verschiedenste Formen von “Anarchismus” gibt

19 Gordon, S. 146.

20 Ein Axiom ist ein Grundsatz einer Theorie, einer Wissenschaft oder eines axiomatischen Systems, der innerhalb dieses Systems nicht begründet oder abgeleitet wird.

21 Gewaltfrei oder militant, wichtig ist der Widerstand!

22 Gelderloos, S. 6ff.

23 Gelderloos, S. 7.

24 http://en.wikiquote.org/wiki/Mohandas_Karamchand_Gandhi

25 Peter Arbenz wurde 2001 vom WEF beauftragt, eine Studie mit dem Titel „Bericht über das Jahrestreffen 2001 des World Economic Forum Davos – Chancen und Risiken für die Zukunft“ zu erstellen, in dem er auf den Protest eingeht, und wie dieser entschärft werden könne (mit dem so genannten „Spielfeld-Szenario“).

26 Arbenz, Bericht über das Jahrestreffen 2001 des World Economic Forum Davos – Chancen und Risiken für die Zukunft.

27 Divide et impera (lateinisch für teile und herrsche) ist eine Redewendung (im lateinischen Imperativ), welche bedeutet, man solle ein Volk oder eine Gruppierung in Untergruppen aufspalten, damit sie leichter zu beherrschen bzw. zu besiegen sei. Sie ist wahrscheinlich nicht antik, wenngleich die damit bezeichnete Strategie sehr alt ist und z. B. in der römischen Außenpolitik ohne Zweifel wiederzuerkennen ist. (Wikipedia)


Quellen/Literatur
Arbenz, Peter: Bericht über das Jahrestreffen 2001 des World Economic Forum Davos – Chancen und Risiken für die Zukunft. (Internet)
Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt. In: Walter Benjamins Gesammelte Schriften, Frankfurt 1999.
Bonanno, Alfredo M.: Malatesta und das Konzept von revolutionärer Gewalt. Konterband Editionen, Zürich 2013.
Churchill, Ward: Pacifism as Pathology. Reflections on the Role of Armed Struggle in North America, Oakland/Edinburgh 2007.
Gelderloos, Peter: How Nonviolence Protects the State. Harrisonburg 2005.
Gordon, Uri: Hier und jetzt. Anarchistische Praxis und Theorie. Nautilus Flugschriften, Hamburg 2010.
Gruppe Landfriedensbruch: Gewaltfrei oder militant, wichtig ist der Widerstand! (Internet)
Malatesta, Errico: Anarchie und Gewalt, in: Anarchismus und Gewalt. Schriftenreihe der Anarchistischen Gruppe Mannheim. (Internet)
Respektive. Gewalt, Angst und Politik. Zeitbuch für Gegenblicke (Sammelband), 02/2011, Zürich 2011. www.respektive.org